TRIER

Nach dem Pisa-Schock haben sich alle Parteien der Verbesserung der Bildung in Deutschland verschrieben. Doch was sie im einzelnen darunter verstehen sieht durchaus unterschiedlich aus.

Trierischer Volksfreund, 02.09.2005

Von unserer Redakteurin Sabine Schwadorf

Es bewegt sich etwas in Deutschland. Darüber sind sich beim vierten TV-Leser-Forum zum Thema Bildung und Wissenschaft Politiker, Experten und Leser einig. Und das, obwohl Bildung zum größten Teil Ländersache ist und damit am 18. September gar nicht zur Wahl steht. Die schlechten Ergebnisse der Pisa-Studie machen's möglich.
Deshalb räumen alle drei Politiker, Elke Leonhard (SPD), Peter Rauen (CDU) und Bernhard Hilgers (Linkspartei), einer Stärkung der
Bildung hohen Stellungwert in ihrem Engagement ein. "Die Regierung hat seit 1998 die Bildungsausgaben um 37 Prozent
gesteigert", hält Leonhard fest, "das ist aber noch zu wenig." Dass "einiges nachzuholen ist", vor allem in der Förderung von
Lernschwachen, davon ist Rauen überzeugt. Erwartungsgemäß stellt Hilgers die sozialen Unterschiede in den Vordergrund: "Das
Schulsystem trägt dazu bei, die sozialen Unterschiede zu verfestigen." Er plädiert für eine Schule bis zur zehnten Klasse. Dass
in den Schulen zu früh ausgesondert werde, kritisiert TV-Leser Roman Backes: "Ich plädiere aber nicht dafür, alle Schüler in einen
Topf zu werfen", sagt der Hauptschullehrer. Dem kann auch Leser Michael Geisbüsch zustimmen.Gesamtschule kontra Dreigliedrigkeit "Pisa sagt nichts aus über das Schulsystem, aber darüber, dass wir zu früh selektieren", sagt der Sprecher des Regionalelternbeirates.
Die Expertin des Forums und ehemalige Schulleiterin des Bitburger Gymnasiums, Elisabeth Asshoff, warnt davor, als Antwort auf die
Pisa-Studie das Konzept der Gesamtschule voranzutreiben: "Es besteht die Gefahr, dass nur eine bestimmte Klientel dort angemeldet wird. Bayern und Baden-Württemberg haben gezeigt, dass das dreigliedrige Schulsystem funktionieren kann."
Entscheidender wertet sie den fehlenden Respekt vieler Eltern vor den Empfehlungen der Lehrer, welche weiterführende Schule ihr Kind besuchen soll. "Lehrer gehen sehr gewissenhaft damit um", sagt sie. Doch Eltern scheinten lieber eigenen Einschätzungen zu folgen. "Wäre das nicht so, würden wir weniger Kinder auf dem Bildungsweg verlieren", sagt Asshoff.
Ob dreigliedrig oder einzügig, mehrsprachig oder praxisbezogen: CDU-Mann und Ex-Unternehmer Peter Rauen sind die Begriffe egal. "Mir geht es um Chancengleichheit. Es macht doch keinen Sinn, Hochbegabte zu bremsen und andere zu überfordern", sagt er, der überzeugt davon ist, dass "Bildung im Elternhaus beginnen muss. Da hat der Bund mit seiner Familienpolitik anzusetzen." 50 Euro pro Kind und Monat für Eltern in die Rentenversicherung, Kinderfreibeträge von 8000 Euro wie bei Erwachsenen und eine "gesellschaftliche Offensive zur besseren Vereinbatkeit von Familie und Beruf" - so stellt er sich den richtigen Ansatz vor. Unsinn, glaubt Bernhard Hilgers. Die aktuelle Familienpolitik laufe komplett in die falsche Richtung: "Wir haben seit Adenauer versäumt, eine Kinderversicherung einzuführen und Familienarbeit der gewerblichen Arbeit gleichzusetzen." Eine Umverteilung von oben nach unten bringe erst die benötigten Mittel, um der Allgemeinheit eine bessere Bildung zu ermöglichen. "So einfach ist die Welt nicht", hält Elke Leonhard Hilgers vor. Bildung sei nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch des Denkens. Sie setzt auf konkrete Ansätze wie etwa Ganztagsschulen. "Ich sehe das als Chance, einen Mangel an sozialer Intelligenz auszugleichen. Es geht mir nicht nur um die fachliche Qualifizierung, sondern auch um das Hervorheben der Pädagogik", sagt sie. Ein Projekt, das Michael Geisbüsch als Elternvertreter unterstützt: "Vielleicht gibt es dort die Möglichkeit - neben einer vorschulischen Verpflichtung zu einem Deutschkurs - Migrantenkinder besser zu integrieren", sagt der TV-Leser. Roman Backes führt das noch schlechtere Abschneiden Luxemburgs beim Pisa-Test an: "Der Grund: Ein Drittel der Bevölkerung ist Ausländer.
Deshalb muss ein Staat so früh wie möglich dafür sorgen, dass es flächendeckend Horte und Kindergartenplätze gibt", sagt er. Verschulung des Kindergartens, frühere Einschulung und Abitur nach der zwölften Klasse: Darauf können sich die Teilnehmer des TV-Leser-Forum schnell einigen. Differenzen gibt es dagegen beim Thema Hochschule. Ein ureigenes bundespolitisches Thema.
Während sich Peter Rauen für Studiengebühren stark macht ("Ich sehe das als Akt der Gerechtigkeit den Azubis und Handwerksmeistern gegenüber, die ihre Ausbildung auch selbst finanzieren müssen") und eine Studienfinanzierung über Darlehen, Stipendien und Drittmittel gesichert wissen will, erteilen Leonhard und Hilgers dem eine Absage. "Chancengleichheit darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen", propagiert die SPD-Politikerin.
Hilgers kritisiert die Studienabschlüsse Bachelor und Master, die er für "inhaltlich rudimentär" hält. Auch Michael Geisbüsch ist gegen Studiengebühren, der einen Ansturm auf bestimmte Studiengänge aus "rein ökonomischer Sicht" befürchtet. Asshoff sieht dem gegenüber in Studiengebühren eine Finanzierungsmöglichkeit für die Hochschulen: "Die Seminare sind vielfach überfüllt, weil kein Personal mehr zu bezahlen ist."
Berufsbeamtentum, zentrale Studienplatzvergabe, Bildungsstandards: Einig ist man sich in der Runde, dass es im Bildungssystem trotz der Länderzuständigkeit Stellschrauben gibt.
Immerhin war die Föderalismus-Kommission zwischen Bund und Ländern vor einem Jahr gerade an der Bildung gescheitert. "Ich bin
zwar nicht für ein zentralistisches System wie in Frankreich, aber wegen der Länderhoheit driftet vielesauseinander", sagt Leser Roman Backes. Expertin Elisabeth Asshoff erwartet von der Bildungspolitik vor allem eines: Ruhe. "Seit Pisa gibt es viel Gutes, aber auch viel Aktionismus in Schulen", sagt sie und erzählt folgende Anekdote: "Ein Bauer war sehr ungeduldig. Er zupfte in der Nacht an den Pflänzchen, damit sie schneller aus der Erde kamen. Am Morgen lagen alle tot und vertrocknet auf dem Acker. Auch Bildung braucht Zeit und Geduld."